Eine besonders spannende Zeit für mich als Sammler von deutschen Gesangsaufnahmen ist die Zeit der sogemannten Weimarer Republik zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Beginn der Nazi-Herrschaft 1930. In dieser Zeit herrschte in Deutschland ein großes Durcheinander mit vielen Krisen, aber auch eine kulturell und künstlerisch sehr fruchtbare Zeit, die eine ungeheure Vielfalt an Künstlern, Formen und Werken hervorgebracht hat. Mit dem Beginn der Nazi-Herrschaft und der Unterdrückung von allem Modernen, Experimentellen und Jüdischen fand diese Vielfalt ein ziemlich abruptes Ende. Moderne Künstler durften keine Funktionen in der Öffentlichkeit mehr ausüben, und die meisten jüdischen Künstler wurden schnell aus dem Land getrieben.
Im Jahr 1921 wurde als Kriegsfolge die Ablösung der Deutschen Grammophon-Gesellschaft von der englischen Gramophone endgültig vollzogen (s.u.). Dies führte dazu, dass fast das gesamte klassische Repertoire in Deutschland neu aufgenommen werden musste, weil alle Aufnahmen vor 1914 nicht mehr verwendet werden durften. Andererseits hatte die Polyphon/Deutsche Grammophon-AG das Recht, den deutschsprachigen Markt ohne Einmischung der englischen Gramophone Company alleine zu bedienen. Dadurch entstanden ab 1920 eine Fülle von Neuaufnahmen, für die es aber aufgrund der wirtschaftlichen Not in Deutschland nicht viele Käufer gab.
Technisch gesehen fiel in das Jahr 1925 die Erfindung des elektrischen Aufnahmeverfahrens, das sich in Deutschland ab 1926 überall durchsetzte. Dabei konnten die Aufnahmen über Mikrophon künstlich verstärkt werden, und man war nicht mehr darauf angewiesen, dass durch den realen Schalldruck eine Membrane bewegt werden musste, die dann die Rillen mit der akustischen Information mechanisch erzeugen musste. Dadurch waren brillantere, lautere und klarere Aufnahmen mit einem größeren Dynamikumfang möglich. Dies führte dazu, dass die gerade gemachten Aufnahmen aus der heute unter Sammlern so genannten "spätakustischen Periode" (1920-1925) sich kaum noch verkaufen ließen und schnell aus dem Katalog gestrichen wurden. So kommt es, dass es aus dieser Zeit viele seltene Aufnahmen gibt, die nur ein paar Jahre und in geringer Stückzahl im Handel waren.
Die Neuaufnahmen der Deutschen Grammophon AG führten auch zur Begründung einer Reihe neuer Serien von Matrizennummern . Bei der englischen Gramophone gab es ursprünglich immer Dreierserien, die einem bestimmten Tontechniker bzw. Technischen Aufnahmeleiter zugeordnet werden konnten. Die Dreierserien standen für die verschiedenen Formate der Platten und bestanden aus drei aufeinanderfolgenden Buchstaben. Bei der Gesamtaufnahme der Fledermaus waren dies z.B. die Buchstabenkennungen des Toningenieurs Max Hampe. der die Kennbuchstaben q (für 17cm-Platten), r (für 25 cm) und s (für 30 cm) benutzte. Dabei wurden bei jedem Format die Aufnahmen fortlaufend gezählt.
Ab 1919/20, als sich die endgültige Trennung von der englischen Mutterfirma abzeichnetete, wurden einige neue Serien von Matrizennummern gestartet, die nun nur noch aus 2 Buchstabenkombinationen bestanden (für 25 und für 30 cm, das 17 cm-Format wurde nicht mehr verwendet). Sie sind:
25 cm 30 cm
an | am |
ao | ap |
ar | as |
at | av |
ax | az |
Von keiner dieser Kombinationen ist bekannt, welchem Toningenieur sie zugeordnet waren und wann sie genau gestartet wurden. Die meisten wichtigen Aufnahmen für Klassiksammler finden sich in der as/ar-Serie, in der auch zahlenmäßig die meisten Aufnahmen entstanden, sowie in der ax/az-Serie. Mich haben schon früh die vielen guten Opernaufnahmen in der as-Serie fasziniert, und so begann ich irgendwann vor vielen Jahren, Angaben zu sammeln. Aus diesen ersten Versuchen ist nun über viele Jahre unter Mithilfe anderer Sammler eine as-Diskographie entstanden, die immerhin ca. 1340 verschiedene Nummern enthält und damit über 60% des aufgenommenen Materials auflistet. Das ist viel, wenn man bedenkt, dass viele aufgenommene Titel gar nicht veröffentlicht wurden. Es kann noch mehr werden, wenn die Leser dieses Artikels mithelfen und noch nicht aufgelistete Nummern, die sich in ihrer Sammlung befinden, mitteilen.
Die besten Informationen über den Prozess der Aufspaltung der Plattenfirmen nach dem ersten Weltkrieg habe ich bei Hanspeter WOESSNER gefunden, der die Lage im Hinblick auf die Schweiz beschreibt und den ich hier ausführlich zitieren möchte:
Die «glückliche Jugend» der Gramophone Co. geht zu Ende
Am 1. August 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Die Gramophone Co. muss ihren Betrieb weitgehend stillegen, nicht nur, weil die englische Regierung Umstellung auf Kriegsindustrie verlangt. Die Grammophonplatte entpuppt sich nämlich nun als Luxusartikel, den zu kaufen jetzt niemand in der Lage ist.
Und zu alledem trifft die Gramophone Co. noch ein weit schwerwiegenderer Verlust: Die Deutsche Grammophon AG (DGA), diese wundervolle «Schwestergesellschaft» (Sister Company), die Hauptstütze der Gramophone Co., wo die Hälfte all der vielen Plattenpressungen für ganz Europa vorgenommen wird (beim Bruder des schon fast legendären Erfinders der Schallplatte in Hannover) - sie liegt jetzt in Feindesland. Und bald auch in Feindeshand!
Da sie nämlich englisches Kapital darstellt, also feindlichen Besitz, wird sie von der deutschen Staatsregierung 1917 beschlagnahmt und an die meistbietende deutsche Schallplattenfirma verschachert. Da aber völlige Flaute herrscht auf dem Plattenmarkt, will niemand viel dafür ausgeben. Und so erwarb schliesslich die wenig bekannte Kleinfirma POLYPHON-Werke AG den grossartigen Weltbetrieb DGA -um einen Pappenstiel.
(...). Während des Krieges ruhten die Aufnahmegeräte, hüben wie drüben. Auch 1919 erfolgen noch keine Aufnahmen in der Schweiz, obwohl der Krieg 1918 zu Ende ist. Die kriegsführenden Nationen sind noch wirtschaftlich erschöpft.
1920 hingegen führen sowohl die Gramophone Co. (...) wie die Polyphon/DGA in Zürich Aufnahmen durch. Nicht nur die Schallplattenpressen, auch die Kriegsprozesse laufen nun auf Hochtouren! Sie erstrecken sich auch auf den Schallplattensektor, denn die Gramophone Co. hat sofort nach Kriegsende Klage erhoben gegen die deutsche Konfiszierung ihres Besitzes und die Rückgabe gefordert.
Erst 1920 war der Prozess abgeschlossen. Wider alles Erwarten entschied das Kriegsgericht zugunsten Deutschlands: Polyphon muss die DGA nicht an England zurückgeben, weil England zuerst deutsche Schallplattenbetriebe in Grossbritannien beschlagnahmt hatte und sie nicht hergeben will. Und so kam es zum staatsgerichtlich verfügten Entscheid, dass die bisher familiär «verschwisterte» Einheit in zwei verschiedene, feindlich konkurrierende Firmen aufgespaltet wurde: die Gramophone Co. in London/Hayes und die (Polyphon) DGA in Berlin/Hannover.
Damit mussten aber auch die bisher vereinigten Rechte aufgeteilt werden: Der englischen Gesellschaft wurden die Rechte auf alle vor dem Krieg aufgenommenen Matrizen, der deutschen diejenigen auf alle nach dem Kriegsausbruch aufgenommenen zugesprochen. (...)
Nicht nur die Archivmaterial-Rechte, sondern auch die künftigen Aufnahmerechte wurden neu verteilt. Die DGA musste sich auf den deutschsprachigen Raum beschränken (Verkaufsrecht nur für Inlandaufnahmen, und offenbar auch Schweiz/Österreich), während die Londoner Stammfirma Anrecht auf gesamteuropäische Aufnahmen beibehielt - unter Verlust des deutschen Sprachraums (ferner auch des russischen infolge der kommunistischen Machtergreifung 1917).
(...)
Übergang zur Epoche nach 1920
(...) Die englische Firma, die Gramophone Co., wird von jetzt an gerne mit dem Namen ihres weltberühmten Etiketts identifiziert: HIS MASTERS VOICE. (...) In Deutschland kann die Gramophone Co. dank juristisch geschickter Kooperation mit dem Lindström-Konzern bereits 1926 wieder Fuss fassen und wenigstens die HMV-Untermarke «Electrola» etablieren (das Hundeetikett der HMV war in Deutschland der DGA vorbehalten, siehe unten).
Und nun zur deutschen «Konkurrenzfirma»! Besitzerin ist die Polyphon-Werke AG, die nun nicht etwa den alten Namen der erworbenen Firma DGA zu löschen versucht und ihre Produkte «Polyphon» nennt, sondern umgekehrt: Der Name «Deutsche Grammophon AG»
war derart angesehen, dass die Polyphon sich im Prozess darum bewarb, ihn weiterführen zu dürfen, obwohl er ja eigentlich der Stammfirma in London gehörte. Auch hier fiel der Entscheid zugunsten der Deutschen aus: Die Polyphon-Werke AG darf auf ihren Produkten den Namen DGA beibehalten, sogar auch das Hundesignet, aber nur im Inland! Wenn sie ihre (auf deutschsprachigen Raum beschränkten) Aufnahmen exportiert, muss sie ein anderes Etikett verwenden. Für Export nach der Schweiz verwendete sie zuerst das grüne Polyphon-Etikett (1920/21), das sie aber bald auf Nachpressungen alter Vorkriegs-Polyphonaufnahmen einschränkt. Darauf folgte das neue «Gramophone-Record»-Etikett mit Grammophonabbildung ohne Hund (Abb. 39).
Im Jahre 1923 erst wurde das endgültige Exportetikett der DGA kreiert, das wieder zu grosser Berühmtheit gelangen sollte: POLYDOR. Der Name enthält eine Anspielung auf «Polyphon» und wohl auf «Ohr», jedenfalls zeigt das Bildsignet zwei Ohrentrichter (Abb. 40).
Im Jahre 1923 erst wurde das endgültige Exportetikett der DGA kreiert, das wieder zu grosser Berühmtheit gelangen sollte: POLYDOR. Der Name enthält eine Anspielung auf «Polyphon» und wohl auf «Ohr», jedenfalls zeigt das Bildsignet zwei Ohrentrichter (Abb. 40).
Die einstige Pionierfirma Gramophone Co. ist somit Opfer der Kriegspolitik geworden: die vom Krieg heraufbeschworene Entzweiung der Völker wurde staatsgerichtlich fixiert mit der Aufspaltung in zwei verschiedene Gesellschaften, die englische Gramophone Co. und die deutsche DGA. Entsprechend müssen wir beim Weiterverfolgen ihrer Tätigkeit diese zwei verschiedenen Firmen getrennt behandeln, nämlich unter der Marke «HIS MASTERS VOICE» einerseits und «POLYDOR» anderseits.
Abbildung 41:
Sobald feststand, dass die DGA Namen und deutschsprachigen
Aufnahmeraum behält, nicht aber das Hundesignet, Hess Polyphon den
Namen DGA unter dem alten Engelsignet im schweizerischen
Handelsregister schützen und sandte eine Aufnahmeequipe
nach Zürich.
(Alles aus: ERZINGER und WOESSNER, Geschichte der Schweizer Schallplattenaufnahmen (1.Teil), in: Gesellschaf zürcherischer Geschichtsfreunde (Hg.): Zürcher Taschenbuch 1989, Zürich 1988, S. 247-256)
English Summary:
After the First World War the Deutsche Grammophon Gesellschaft was split from the English Gramophone Company and was bought by the Polyphonwerke AG in Germany. In a judgement of an international court (don't know which) the English Gramophone got the rights for all the German recordings until 1914 and for distribution of recordings in Europe, while the German Polyphon got the right to distribute their record in German speaking countries. As a consequence of this a lot of recordings of classical works in Germany had to be recorded again. Also the old matrix series of the Gramophone Company, which were always related to a certain recording engineer, were no longer in use and a lot of new matrix series were established. Each series consisted of a pair two-letter-suffixes, one for 25 cm recordings (10 inch) and one for 30 cm-recordings (12 inch). These new series, which were established around 1920, were an/am, ao/ap, ar,/as, at/av and ax/az. The most important series for classical collectors is the ar/as series, where ar stands for 10 inch-recordigs and as for 12 inch recordings.
I have collected these numbers, for which no written records have survived the war, for many years and have now found for the as series about 1340 numbers, which is about 60 percent of the recorded output. Among the missing 40 percent there are many records which were not published. Most of these records from the late acoustical period (1920-1925) are very rare for two reasons: as they were made, there was a great economical crisis in post war Germany, and there were not many potential buyers for those recordings. (The same crisis was in the second half of the twenties with the opera houses, when many seats stayed empty.) The second reason is that they were replaced or discarded soon after 1925, when the electrical recording method via microphone and amplifier and no longer via diaphragm and needle made its triumphal march in the recording business, so that acoustically recorded records were no longer saleable.
The as matrix series features many international known opera singers, but also singers of more local importance or dance bands. Especially in the last two years of its existence there were also many orchestral and instrumental recordings with later still well known conductors and artists, which are also very rare today.
The labels were first the normal Gramophone label with dog and the Polyphon label as a cheaper budget label. As the Deutsche Grammophon/Polyphon was prohibited to use the dog label outside of Germany, there first was for foreign countries (including Austria) a label with only a gramophone and no dog (about 1921-22) and then since 1923 for export the Polydor label (head with two ears).
In the following postings (published earlier for exact sequence) there will be given all the known numbers for reading. You don't need to copy it, because I am preparing a PDF-version of the discography which soon shall be ready and will be given here in this blog for download in a few days.